„Warum kapierst Du Mathe nicht?“
Wir leben in einer komischen Welt: Erklärt einer dem Anderen etwas und der Andere versteht es einfach nicht, dann fragen wir eher: „Warum kapierst Du das denn nicht?“, als „Warum kann ich es Dir nicht so erklären, dass klar wird, was ich meine?“Und indem wir so fragen, schieben wir den schwarzen Peter zum Unwissenden. Nun sitzt er dort, weiß immer noch nicht die Lösung und trägt anscheinend auch noch die Schuld daran.
Warum tun wir das? Im wesentlichen gibt es fünf Motive:
Hilflosigkeit: Ich kenne mich mit dem Thema auch nicht so gut aus, kann deshalb nicht die erforderlichen Hintergrundinformationen liefern. Ich erkläre es vielleicht mehrmals auf ein uns dieselbe Art und Weise. Mehr geht nicht. Und wenn das nicht reicht, werde ich verzweifelt fragen, warum mein Kind nicht versteht, was es verstehen sollte.
Anregungen: Ich besorge mir die fehlenden Informationen oder suche Rat bei einem Experten.
Angst: Wird mein Kind/Schüler dieses wichtige Thema nie verstehen? Was hat das nur für Auswirkungen? Ohje, wie kann ich nur helfen? Angst und Panik, machen den Kopf eng und lassen nicht mehr klar denken.
Anregungen: Ich mache mir Gedanken: Wovor habe ich eigentlich Angst? Ist sie begründet oder nicht? Was gibt es für Alternativen, wo gibt es Hilfe?
Stress: Ich habe nicht die Zeit und die Ruhe, das noch weiter und ausführlicher zu erklären.
Anregungen: Ich schaffe mir Pausen und Ruhemomente und nutze diese zum entspannten Erklären.
Desinteresse: Ich habe es probiert, es hat nicht geklappt. Pflicht erfüllt, nun kümmere ich mich wieder um andere Dinge.
-> Wenn ein Mensch nicht von sich aus die Wichtigkeit des Erklärens erkennt, dann mangelt es meist auch an der Motivation, diese Meinung zu ändern. Wenn mir jemand zeigt, dass besseres Erklären wichtig ist, lasse ich mich vielleicht eines besseren belehren.
Narzissmus: Ich kann so toll erklären, dass Menschen, die meine Erklärungen nicht verstehen es selber schuld sind.
-> Ich brauche mich doch nicht zu ändern, nur weil mich mal jemand nicht versteht.
Ich möchte mich dem Narzisten zuwenden, weil ich in meiner Arbeit oft Opfer solcher selbsternannter Erklärprofis erlebe. Sie sind vertreten unter Lehrern, Eltern, Verwandten, Nachhilfelehrern, kurzum wir sind umgeben von ihnen.
Typische Identifikationsmerkmale:
Pauschale Bagatellisierung: Das Mathe-Problem ist ein Klacks, das werden wir ganz schnell in den Griff bekommen.
übersteigertes Selbstvertrauen: Ich habe schon so vielen geholfen und alle haben es verstanden.
Geschichtenerzähler: Ein nicht enden wollender Fundus an Anekdoten von bisherigen Erfolgsgeschichten wird freudig referiert
Enternainment: Ich bin in Mathe ein richtiger Alleinunterhalter, die Bühne bei der Förderung gehört mir
Beifallheischen: Beim Erklären/Unterrichten sprechen narzistische Erklärer meist so laut, dass möglichst viele Umherstehenden ihre Art des Erklärens mitbekommen. Oft drehen sie sich gar während des Erklärens vom Hilfesuchenden weg, hin zu einem vielversprechend wirkenden „Publikum“.
Kritik = Kränkung: Wird vom Hilfesuchenden oder dessen Umfeld geäußert, dass die gewählten Erklärwege nicht funktionieren und es vielleicht anders besser gehen könne, wird dieses als Angriff empfunden. Verteidigungsmechanismen folgen, die fast ausschließlich die Schuld beim Lernenden und dessen Umfeld ausfindig machen (zu faul, zu schlecht, zu unbegabt, zu unmotiviert…)
Lachen über Fehler: Wenn ein Schüler einen nicht korrekten Lösungsweg wählt, wird dieses mit Lachen oder Fassungslosigkeit quittiert
Bloßstellen: Ein Schüler, der nichts versteht, wird auch vor anderen wegen seines Unverständnisses lächerlich gemacht.
Opfer von selbstverliebten Lehrenden
Wenn ein Schüler in Mathematik Hilfe sucht, ist er darauf angewiesen, einen kompetenten Mathehelfer zu finden. Scheint dieser gefunden, so vertraut er diesem und gibt sich in seine Hände. Als besonders beruhigend wird es empfunden, wenn der Lehrende bereits viele Erfolge zu verbuchen hat und dieses auch erzählt.
Ein hochgelobter Nachhilfelehrer ist aber nur dann toll, wenn auch ich es bei ihm verstehe. Kapiere ich hingegen nichts, macht das Renommee meines Helfers mir eher stärkeren Druck: „Hey, wieso verstehen es bei dem alle, nur ich nicht? Was ist mit mir los?“ Jetzt braucht ein Schüler eigentlich eine starke Stütze, die ihm zeigt: Auch Du kannst das schaffen. Der Druck wird hingegen noch größer, wenn auch der Nachhilfelehrer signalisiert: „Warum checkst Du das bloß nicht? Alle haben das kapiert. Gib Dir mal Mühe.“ Ein narzistischer Lehrer macht allerdings genau das und erreicht damit, dass das Selbstbild seines Schülers in Mathe immer schlechter und unumstößlicher wird.
Viele Schüler geraten so in einen Strudel der ihnen suggeriert: Du bist ein hoffnungsloser Fall. Und wenn jemand zu der Überzeugung kommt, dass er ein hoffnungsloser Fall ist, dann wird es immer schwerer, ihm Mut zu machen und ihn zu ermutigen, es noch einmal zu probieren.
Schüler die diesen Weg durchlaufen haben, brauchen vor allem extrem viel Bestärkung. Sie müssen lernen, wieder an sich selber zu glauben.
Ich finde: Wenn man es nicht schafft, jemandem die Mathematik nahezubringen, dann sollte man sich entscheiden, ob man sich der Herausforderung dennoch gewachsen fühlt oder nicht. Wenn ja, bedeutet das, wach zu sein, um zu erkennen, welcher Weg für den anderen der richtige ist und sich darauf einzulassen, neue Wege auszuprobieren. Wenn nein, dann sollte ein sachliches „Ich kann Dir dabei nicht weiterhelfen, Du solltest es mit jemand anderem probieren.“ genügen.
Was kann ich als Elternteil/Lehrer tun:
Wachsam sein. Stehen Sie tendenziell immer auf der Seite des Schülers, nicht auf der des Erklärers. Klagen des Schülers ernst nehmen. Das Gespräch mit dem Lehrenden suchen und beobachten, wie offen der Erklärer ist und was er als Auslöser für die anhaltenden Probleme benennt. Wird im Gespräch nur der Schüler als Problemverursacher benannt, dann ist das zu einseitig und unreflektiert.
Gibt es nicht auch Schüler, die einfach nur keine Lust auf Mathe oder kein Mathetalent haben?
Ganz ehrlich: Ich kenne solche Schüler nicht. Wenn es nur in der Mathematik Probleme gibt und die anderen Fächer gut bewältigt werden, steht dem Erfolg in Mathe bei der richtigen Förerung nicht viel im Wege.