Wie erlernen Menschen die Mathematik? Welche Rolle spielen Umwelt, Erfahrung und Schule?

Es hat zu dieser Fragestellung eine interessante Untersuchung der Universität Paris Descartes gegeben. Forscher überprüften die geometrischen Fertigkeiten eines Volkes, das im brasilianischen Amazonasgebiet lebt. Den Einwohnern wurden geometrische Fragestellungen unter anderem zu den Themen Parallelität und Winkel vorgelegt. Die Befragten konnten die Aufgaben ähnlich gut lösen, wie Schulkinder aus den USA und Frankreich. Überrascht?

Die Ergebnisse tauchten in den Medien unter dem Titel „Menschen verstehen Geometrie auch ohne Unterricht“ auf.

Diese Folgerung lässt mich irritiert innehalten und fragen: Gibt es die Geometrie nur, weil wir sie in der Schulmathematik erlernt haben oder gibt es die Schulmathematik, damit wir zum Beispiel die Geometrie besser kennen und anwenden lernen?

Schauen wir auf unsere Urahnen: Um sich ernähren zu können, jagten sie Tiere. Sie werden schnell gemerkt haben, dass sie ein geworfener schlichter Stock dem Hungertod in die Arme treibt, wohingegen ein gespitzter Stock das begehrte Tier schneller zur Strecke bringt. Außerdem merkten sie, wie ein Stock geschaffen sein sollte, damit seine Flugeigenschaften möglichst gut sind. Vor über 400.000 Jahren lernten die Menschen so, wie ein Jagdwerkzeug gebaut sein sollte und entwickelten so den noch heute bekannten Speer. Um das zu schaffen mussten Sie sich sehr gut unter andere, mit Längen Winkeln auskennen.

Wie konnten sie das ohne Lehrer tun?

Sie waren hoch motiviert (Ich will überleben!)

Sie arbeiten mit ganz konkreten Dingen (Ast-Tier)

Sie probierten – sammelten Erfahrungen – glichen die Erfahrungen mit ihren bisherigen Erfahrungen ab – verfeinerten den Speer – sammelten weitere Erfahrungen ….

Was sie nebenbei machten, war ein Crashkurs in dem, was Jahrtausende später Geometrie genannt wurde. Wie konnte das geschehen? Sie befanden sich mitten im Turbo-Trainingscamp für Geometrie. Neben den Speeren fanden sie wo auch immer sie hinschauten Winkel, geometrische Formen und Muster.

Gebogene Grashalme, Ansammlungen von Bäumen und Felsgebilde sind nur einige der geometrischen Eindrücke die sie sammelten. Eindrücke, die auch Sie sammeln können: Schauen Sie einfach mal gerade zwei Minuten vom Rechner auf und beachten Sie, was um Sie herum mit Geometrie zu tun hat.

All das Wissen, das Sie über Geometrie haben, hilft Ihnen nicht, wenn Sie keine konkreten praktischen Erfahrungen zu den Themen sammeln konnten.

Sie haben nie mit einem Spiegel und Gegenständen gearbeitet? Es wird nicht möglich sein, zu verstehen, was eine Achsenspiegelung ist. Sie haben nie mit Murmeln, Flummis oder Bällen gespielt? Was für eine Bedeutung haben dann für Sie Kenntnisse über Winkel?

Auch unsere Vorfahren konnten sich nur weiter entwickeln, indem sie Eindrücke sammelten und diese verarbeiteten.

Die gute Nachricht: Dieses Trainingslager gibt es auch noch heute! Die Schlechte: Es ist nicht mehr überlebensnotwendig, sich mit diesem Lager zu intensiv befassen (wenn mal mal vom guten Schulabschluss absieht). Dennoch sind diese Erfahrungen von größter Bedeutung, weshalb wir versuchen sollten, Anreize zu verschaffen. Deshalb der Apell an alle

Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, denen Geometrie ein Gräuel ist: Raus ins Trainingscamp und Spielen Beobachten und Interpretieren. Alle Erfahrungen, die dabei gesammelt werden, helfen die schulische Geometrie zu verstehen. Wer findet die meisten Dreiecke? Wo sind ähnliche Dinge? Was ist symmetrisch? Wo gibt es Spiegelungen? Wie muss ich einen Kirschkern spucken um den Nachbarn zu treffen? Machen Sie es, wie die Vorfahren: Suchen Sie sich die Fragestellungen heraus, die am meisten Spaß machen oder am wichtigsten sind.

Noch mehr Anregungen? Die kommen im nächsten Newsletter. Vorher freue ich mich auf Ihre Berichte. Schreiben Sie, wie Sie in den nächsten Wochen die Geometrie im Alltag entdecken….

Viel Spaß dabei.